Lucia Binar und die russische Seele by Vladimir Vertlib

Lucia Binar und die russische Seele by Vladimir Vertlib

Autor:Vladimir Vertlib [Vertlib, Vladimir]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2015-07-30T16:00:00+00:00


11

Das gutmütige Gesicht des Beamten am Schalter war Alexander aufgefallen, als er sich früh am Morgen im Eingangsbereich des Untersuchungsgefängnisses eingefunden hatte. Jetzt wartete er ab, bis die anderen Besucher das Gebäude verlassen hatten, und wandte sich an den feisten Herrn mittleren Alters mit den Worten: »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie belästigen muss, aber ich sollte dringend den Direktor dieser Anstalt sprechen.«

Der Beamte hob die Augenbrauen. »Wie ist Ihr Name?« Seine leise, sympathische Baritonstimme passte zu seiner rundlichen Erscheinung und seinen blauen Augen, in denen hin und wieder der Schalk aufblitzte.

Eine Minute später blätterte er immer noch in seinen Unterlagen, runzelte die Stirn und sagte: »Ich kann Ihren Namen nicht finden. Haben Sie denn heute einen Termin?«

»Nein«, erklärte Alexander schmunzelnd, »aber ich habe ein Empfehlungsschreiben.« Mit diesem Worten reichte er dem Beamten ein Kuvert. Dieser schaute sich um, um sicherzugehen, dass sich sonst niemand im Raum befand, öffnete das Kuvert, strich rasch, wie beiläufig, mit dem Zeigefinger über den Rand der Geldscheine, ohne diese herauszunehmen, machte das Kuvert wieder zu, faltete es, schob es in die Brusttasche seiner Uniformjacke und sagte im selben freundlichen Tonfall wie zuvor: »In einer Viertelstunde, wenn der Herr Direktor von seinem Rundgang zurück ist, wird er Sie empfangen. Ich gehe davon aus, dass es sich um eine besonders wichtige Angelegenheit handelt.«

»Es gab bis jetzt nur wenig in meinem Leben, das mir so wichtig gewesen wäre.«

»Oh! Ich verstehe.« Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht. »Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Sie können einstweilen dort rechts auf der Bank Platz nehmen, und wenn ich noch etwas für Sie tun kann …«

»Ich danke Ihnen«, sagte Alexander.

Während er wartete, stellte er plötzlich fest, dass er das Aussehen Dmitrijs nicht mehr hätte beschreiben können. Er hatte seine Stimme im Ohr, er roch seinen Atem, in jeder Pore seiner Haut und in jeder Windung seines Gehirns war der Schwager präsent, so als hätte er sich dort für immer eingenistet und würde nach und nach mit ihm verschmelzen, ein Teil von ihm selbst werden, und doch konnte er nicht mehr sagen, wie er aussah, so als hätte jemand mit einem unsichtbaren Schwamm das Bild aus seinem Gedächtnis gelöscht.

Das Büro des Direktors war nur durch einen gesonderten Treppenaufgang zu erreichen, der durch eine Stahltür geschützt war. Ein junger Justizwachebeamter sperrte auf, ging Alexander voraus, blieb aber nach etwa zehn Stufen plötzlich stehen und drehte sich um. Sein Gesicht drückte eine Mischung aus Trotz und Verlegenheit aus. »Äääh, also«, murmelte er. »Der Direktor hat eigentlich wenig Zeit. Aber …« Er senkte den Blick.

»In Ordnung«, sagte Alexander, griff in die Innentasche seines Sakkos und holte ein weiteres Kuvert heraus, das allerdings um einiges dünner war als jenes, das er vorhin dem Mann am Schalter gegeben hatte. Der junge Mann griff danach, bevor Alexander dazu kam, es ihm zu reichen. Er schaute kurz hinein, und seine Augen begannen zu leuchten. »Der Direktor hat eigentlich wenig Zeit«, sagte er, und seine Stimme klang heller und fester als noch vor wenigen Augenblicken. »Aber er wird sich bestimmt die Zeit für Sie nehmen, weil sich ja insgesamt die Zeiten geändert haben.



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